Mutter- oder Spenderinnenmilch: Wie Frühgeborene profitieren
Eine kürzlich veröffentlichte konsensbasierte AWMF-Leitlinie bestätigt bisherige Empfehlungen der Fachgesellschaften: Steht keine Muttermilch zur Verfügung, sollte Spenderinnenmilch als erste Alternative für die Ernährung Frühgeborener erwogen werden. Wir werfen einen Blick auf die aktuelle Forschung und stellen die Frauenmilchbank-Initiative vor.
Muttermilch – das Beste für die Kleinsten
Alle Neugeborenen profitieren von einer Ernährung mit der Milch der eigenen Mutter. Für Frühgeborene gilt das ganz besonders: Ihr Verdauungssystem ist noch unreif und noch nicht durch ein physiologisches Mikrobiom besiedelt. Das macht es anfälliger für Infektionen. Diverse Studien zeigen die positiven Effekte der Muttermilchernährung direkt nach der Geburt.
Neben der Versorgung mit Nährstoffen liefert die Muttermilch
- wichtige Abwehrstoffe,
- Wachstums- und Reifungsfaktoren,
- notwendige Bakterien für die Entwicklung einer gesunden Darmflora und funktionierenden Infektionsabwehr.
Durch diese Eigenschaften mindert Muttermilch das Risiko für die nekrotisierende Enterokolitis (NEC), einer entzündlichen Darmerkrankung, die für die Säuglinge lebensbedrohlich sein kann. Auch das Risiko für eine Sepsis oder andere Infektionen sinkt bei der Ernährung mit Muttermilch. Darüber hinaus wirkt die Muttermilch stimulierend auf die Entwicklung des Verdauungs- und Immunsystems von Frühgeborenen. Frühgeborene, die gestillt entlassen werden, haben ein niedrigeres Risiko für spätere Entwicklungsdefizite als solche, die mit Formula ernährt werden.
Wenn keine Muttermilch verfügbar ist:
Spenderinnenmilch als erste Alternative
Aufgrund der wissenschaftlich evidenten Vorteile der Muttermilch gegenüber Formulanahrung lautet die Empfehlung von Fachgesellschaften wie der ESPHGAN und der WHO: Steht Muttermilch nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfügung, sollte pasteurisierte Frauenmilch aus einer Frauenmilchbank verwendet werden. Immer mehr Kliniken folgen dieser Empfehlung und erwägen für die Ernährung Frühgeborener mit niedrigem Geburtsgewicht qualitätskontrollierte Frauenmilch anstelle von künstlicher Nahrung als erste Alternative. Dabei sollte Frauenmilch stets als Überbrückung dienen, bis im Idealfall genug Muttermilch zur Verfügung steht.
Gut zu wissen:
In einigen wenigen Ländern wie Norwegen und teilweise auch in Deutschland wird auch unpasteurisierte Frauenmilch, in der weitestgehend die komplette biologische Aktivität enthalten ist, in der Ernährung von vor allem kleinen Frühgeborenen verwendet. Allerdings fehlen für die Gabe nicht pasteurisierter Frauenmilch Daten aus randomisierten Studien.
Reduktion von NEC auch unter Spenderinnenmilch
Die Metaanalyse zahlreicher Beobachtungsstudien deutet darauf hin, dass die Gabe von humaner Milch (pasteurisierte Spenderinnenmilch) anstelle von Formulanahrung einen großen Effekt auf die Vermeidung einer NEC sowie die Reduktion von Infektionen hat und damit zur reduzierten Mortalität bei Frühgeborenen beiträgt.
Die 2024 veröffentlichte randomisierte MILK-Studie bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1000 g zeigte eine NEC-Rate von 4,2% in der Frauenmilchgruppe versus 9,0% in der Formula-ernährten Gruppe.
Daneben scheinen sich bei der Versorgung mit Frauenmilch weitere günstige Effekte abzuzeichnen, etwa
- eine schnellere Magenentleerung,
- früheres Erreichen der vollen enteralen Ernährung,
- verbessertes Darmwachstum und verbesserte Darmreifung.
Es gibt darüber hinaus schwache Hinweise, dass auch mit der Frühgeburtlichkeit assoziierte Erkrankungen wie die Frühgeborenen-Retinopathie, die bronchopulmonale Dysplasie und Sepsen durch die Gabe von humaner Milch reduziert werden könnten.
Gut zu wissen: Fortifier
Um die besonderen nutritiven Bedürfnisse der Frühgeborenen zu erfüllen, muss humane Milch mit Makro- und Mikronährstoffen angereichert werden. Der aktuelle Ernährungsstandard für Frühgeborene beinhaltet daher die Anreicherung nativer Muttermilch mit zusätzlichen Nährstoffen. Die so genannten Multikomponentenfortifier zur Anreicherung von Muttermilch enthalten eine Kombination aus zusätzlichem, bisher meist aus Kuhmilch gewonnenen Protein sowie Kohlenhydraten oder Fetten.
Woher kommt die Spenderinnenmilch? Vorstellung der Frauenmilchbank-Initiative
Der Aufgabe, gespendete Milch einer anderen Mutter für möglichst viele Frühgeborene oder kranke Säuglinge zugänglich zu machen, widmet sich die Frauenmilchbank-Initiative (FMBI). Sie setzt sich dafür ein, dass alle bedürftigen Frühgeborenen in Deutschland, denen trotz optimaler Stillförderung keine Muttermilch zur Verfügung steht, einen sicheren Zugang zu Milch aus einer Frauenmilchbank erhalten. In diesen spezialisierten Einrichtungen wird die Milch gesammelt, getestet, verarbeitet und verteilt. Aktuell gibt es mehr als 50 Frauenmilchbanken in Deutschland; seit 2024 verfügt jedes Bundesland über mindestens eine Frauenmilchbank.
Darüber hinaus informiert die FMBI die Öffentlichkeit über die Vorteile der Ernährung mit humaner Milch, fördert den wissenschaftlichen Diskurs und Erfahrungsaustausch in Fachkreisen und steht interessierten Kliniken mit Rat und Tat zur Seite. Die FMBI kooperiert eng mit medizinischen Fachverbänden und anderen Vereinen, Institutionen und Expertinnen und Experten im In- und Ausland.
Praxis-Tipp für die Elternberatung
Um bei Bedarf schnell und zum Wohle des Neugeborenen handeln zu können, kann – zum Beispiel im Rahmen eines Pränatalgespräches – von den Sorgeberechtigten eine Einwilligung zur Ernährung ihres Kindes mit gespendeter Milch eingeholt werden. In diesem Zusammenhang sollten sie über die Vorteile und Risiken der Ernährung mit Frauenmilch im Vergleich zu Ersatznahrungen aufgeklärt werden.
Aktuelles aus der Wissenschaft: S2k-Leitlinie
Unter Federführung der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrischer Intensivmedizin (GNPI) entstand kürzlich eine neue S2k-Leitlinie zum Thema "Einsatz und Behandlung von humaner Milch in Einrichtungen des Gesundheitswesens.“
Ziel der Leitlinie ist es, konkrete Handlungsempfehlungen für den Einsatz von humaner Milch für stationär zu behandelnde Neugeborene zu geben. Gegenstand sind Sammlung, Transport, Lagerung, Verarbeitung und Abgabe von humaner Milch in Einrichtungen des Gesundheitswesens. An der Ausarbeitung waren verschiedene Fachgesellschaften, darunter die Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI), die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) sowie die Frauenmilchbank-Initiative, der Deutsche Hebammenverband und der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ beteiligt.
Die erste und damit wichtigste Empfehlung lautet, dass Neugeborene grundsätzlich mit Muttermilch, also Milch der eigenen Mutter ernährt werden sollen. Wenn diese nicht ausreichend zur Verfügung steht, ist gespendete Frauenmilch aus einer Frauenmilchbank sinnvoll. Mit dieser Empfehlung schließt sich die deutschsprachige Leitlinie den internationalen Empfehlungen von WHO und ESPGHAN an.
Die Leitlinie steht hier zum Nachlesen und Herunterladen bereit.
Praxis-Tipp für die Elternberatung
Die Gabe von Milch an ein fremdes Kind begründet in einigen Religionen und Glaubensgemeinschaften ein verwandtenähnliches Verhältnis zwischen Empfänger- und Spenderinnenkind. Die sensible Beratung und Aufklärung der Eltern spielen in diesen Kontexten eine besonders wichtige Rolle und können in vielen Fällen eine Einwilligung ermöglichen.
Hoher Bedarf, kleineres Angebot – was tun?
Obwohl die Anzahl der Frauenmilchbanken in den letzten Jahren gewachsen ist, klaffen Angebot und Bedarf an Spenderinnenmilch noch auseinander. Eine Priorisierung der Vergabe von Frauenmilch ist notwendig. Grundsätzlich hat die Ernährung der eigenen Kinder Vorrang vor einer Milchspende. Die neue s2k-Leitlinie empfiehlt eine pragmatische abteilungsinterne Priorisierung nach Gestationsalter und Diagnosen. Nach Frühgeborenen können auch reife Neugeborene nach Operationen oder anderen Erkrankungen (z. B. angeborene Herzfehler) Frauenmilch erhalten.
Falls keine oder wenig Muttermilch verfügbar ist, können spezielle Frühgeborenen-Nahrungen helfen, den erhöhten Nährstoffbedarf zu decken. Humana 0-HP-1und 0-HP-2 sind Spezialnahrungen zur ausschließlichen oder ergänzenden enteralen Ernährung von Frühgeborenen. Sie sind auch über längere Zeiträume als Trink- und Sondennahrung geeignet.
Nach der Klinikentlassung
Zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik liegt bei der Mehrzahl der Frühgeborenen das Körpergewicht unter dem Gewicht von gesunden reifgeborenen Säuglingen. Daher kann es sein, dass das frühgeborene Kind auch nach der Entlassung einen erhöhten Energie- und Nährstoffbedarf hat. Mögliche Wachstumsdefizite sind vom jeweiligen klinischen Verlauf abhängig und deshalb von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Ist das Stillen nicht möglich, ist eine spezielle Frühgeborenennahrung in solchen Fällen oft geeigneter als eine normale Säuglingsanfangsnahrung. Das Ziel ist, dem Kind ein optimales Wachstum zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch ein zu hohes Nährstoffangebot mit möglichen späteren, unerwünschten Langzeitkonsequenzen (z. B. Übergewicht) zu vermeiden. Eine kontinuierliche Wachstumskontrolle mit regelmäßigen Messungen von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang ist sinnvoll, um die Dauer und die Art der Ernährung individuell anzupassen.
Mehr Informationen dazu finden Sie hier.
Literatur
AWMF-Leitlinie 024-026: S2k-Leitlinie "Einsatz und Behandlung von humaner Milch in Einrichtungen des Gesundheitswesens", Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) und weitere Fachgesellschaften, Koordination: Dr. med. Monika Berns. 03/2024. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/024-026
Frauenmilchbank-Initiative e.V. Frauenmilchbank Initiative e.V.
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Empfehlungen zur Förderung von Frauenmilchbanken in Deutschland, Österreich und der Schweiz (D-A-CH-Raum), Positionspapier, herausgegeben von der European Foundation for the Care of Newborn Infants (EFCNI), Februar 2018